Mittwoch, 10. April 2013

Ein paar Worte


Es tut weh, innen drin. Heute war mein erster Tag ohne Bulimie. Meine Kontaktleute und ich haben vereinbart, dass ich mich nicht überfressen und übergeben darf, weil mein Gewicht zu sehr nach oben geht. Schneller, als ich es ertragen kann. Die Gewichtszunahme lässt sich nicht vermeiden, aber sie darf nicht vom überfressen kommen. Ich muss gesund und ausgewogen essen, um zuzunehmen, und das wird in der neuen Klinik geschehen.
Ich befinde mich bei einem BMI von 15. Ich lebe in einem komplett unbekannten Körper. Das fühlt sich furchtbar an und so will mich auch die Krankheit fühlen lassen. Ich versuche daran zu denken, dass ich jetzt denken darf, aber ich kann die Krankheit nicht komplett ignorieren. Damit habe ich die letzten neun Jahre verbracht. Dass ich plötzlich ganz anders denken und handeln muss, ist sehr gruselig und fast schon gefährlich. Ich habe das Gefühl, dass ich mich in tiefen Gewässern befinde. Es gibt tausende Hände, die mir helfen, aber die Krankheit schreit so laut. Ich kann nicht auf alle um mich herum hören, die mir helfen wollen, die Krankheit zu besiegen, weil die Krankheit lauter ist.
Ich versuche nicht, magersüchtig zu denken, wie ich es sonst immer gemacht habe. Ich versuche, anders zu denken. Ich versuche zu denken, dass die neuen Kilos gesund sind, aber die Krankheit lässt mich die Hölle spüren.
In mir schmerzt es so sehr. Ich weiß, dass die Zeit, die vor mir liegt, die Hölle sein wird. Es gibt so viel, das ich loslassen muss. So viele schwierige Hügel, die ich erklimmen muss. So viel, dem ich mich aussetzen muss. So viele Veränderungen. So viele Gefühle, die ich ertragen muss, damit ich überleben kann. Es gibt so viel, wovon ich gerade nicht glauben kann, dass es das am Ende wert sein wird. Aber das ist nur mein Gefühl heute ABend, vielleicht ist es morgen schon anders.
Es ist komisch. Wir hatten heute Maltherapie. Das Thema war Träume. Mein Bild war gefüllt von Titeln und Worten. Gesunder Körper! Reisen! Ärztin! Hochzeit! Heimat! Wahl! Keine Schmerzen! Ich weiß, dass der Weg dorthin bedeutet, dass ich die Krankheit loslassen muss. Weniger als zwei Wochen, bis ich in die neue Klinik gehe.

Ich weiß, dass ich loslassen muss. Ich weiß, dass ich weitergehen muss. Ich weiß, was ich im Leben haben möchte. Darauf haben ich und so viele andere schon so lange gewartet. Das ist jetzt meine Chance. Die Krankheit versucht mich vom Gegenteil zu überzeugen, aber ich habe entschieden. Ich habe meine Eltern vorgewarnt, dass sie mich davon abhalten sollen, wenn ich den Schwanz einziehen will. Es wird sehr schwierig werden,d aran gibt es keinen Zweifel, aber es ist meine Chance. Die Zeit ist gekommen. Ich habe jahrelang über meine Träume, Hoffnungen und Pläne gesprochen. Jetzt muss cih zeigen, dass ich es wirklich überleben werde. Ich will das Leben finden, das ich verdiene.

Ich vermisse mich selber. Ich vermisse meine Stärke. Heute ist einfach ein trauriger Tag. Ich bin es gewohnt, zu essen und mich zu übergeben. Ich hatte heute viel Zeit und ich weiß nicht, womit ich sie füllen soll. Ich vermisse meine Freunde, Handball, Schule, Familie, das Leben...
Die kennen das Leben. Für alle anderen Leute ging das Leben weiter. Es ist zwei Jahre her, dass ich ein normales Leben mit Schule, Freunde und Hobbys hatte. Das Leben ging weiter und die Dinge haben sich verändert. Alle anderen sind weiter als ich. Es ist schwierig, wieder anzufangen. Ich muss mich finden.
Der Perfektionist in mir denkt, dass er alles am besten machen musst. Da haben wir das Mädchen, das ich einst war. Das kranke Mädchen, das alles zu 100% machen musste. Zu viel Verantwortung, zu viele Verpflichtungen, zu viel 100%. Das Mädchen, das sich nie gut genug gefühlt hat. Warum habe ich es getan? Ich bin und war gut genug. Was ist mit dem kleinen Mädchen passiert?
Es war doch so glücklich und fröhlich. Wie konnte es so krank werden? Ich werde wütend, wenn ich daran denke. Es ist nicht fair. Das Mädchen ist weg. Das Leben ist weg und ich bin seit Jahren in der Hölle gefangen. Ich kann dem Mädchen nicht helfen. Ich kann jetzt nur versuchen, besser zu werden.


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