Dienstag, 10. Dezember 2013

One day at a time

Heute ist wieder einer der schwierigen Tage, von denen ich in letzter Zeit leider viele hatte. Viel Dunkelheit. Deshalb ist es umso wichtiger, nach der Sonne zu schauen, die den Tag etwas aufhellt. Den Tag, nicht die Tage, denn ich will einen Tag nach dem anderen nehmen. Alles andere wäre etwas zu viel. Wenn ich an mehr als den nächsten Tag denke, verliere ich den Mut und die Hoffnung, die ich so sehr brauche.
Ich sitze gerade im Wohnzimmer bei meiner Mutter. Sie hat den Ofen an und Kerzen angezündet. Der Weihnachtsstern leuchtet im Fenster, alles ist sehr gemütlich. Meine Mutter versucht alles so angenehm wie möglich zu machen, aber es ist nicht genug. Alle versuchen ihr bestes, aber sie können mir nicht helfen und sie fühlen sich hilflos.
Die einzige, die wirklich etwas machen kann, bin ich. Aber wenn die Tage schwierig sind, ist das einfacher gesagt als getan. Ich kann alles machen. Ich kann auch auf die Krankheit hören, weil sie bekannt ist, aber dann kann ich nicht weitermachen. Ich wandere in meiner eigenen Welt, in der ich neun Jahre war. Es ist so einsam hier und ich bin traurig, hier zu sein. Die Krankheit nimmt mir alles. Zeit, wertvolle Momente, Fokus, Freude, Glück. Es ist unmöglich zu leben, wenn die Krankheit im Nacken sitzt. Man existiert nur. Das ist nicht das Leben, von dem ich träume.
Meine Träume sind stark und waren das auch immer, aber manchmal fühlen sie sich unmöglich an. Manche Tage sind besser als andere.

Die Krankheit ist teuflisch. Ich denke oft daran, was sie mir und allen um mich herum angetan hat. Wenn man sich meinen Körper anschaut, sieht man einen Bruchteil des Schmerzes, den ich erlitten habe. Narben über Narben. Die Magersucht hat mich hungern lassen, jahrelang, ich war dem Tod oft nahe. Sie hat mir gesagt, wer ich bin, auch wenn es nur eine Lüge nach der anderen war. Was auch immer ich getan habe, es war nicht gut genug. Sie hat mich in verschiedene Richtungen getrieben. Mit 11 sollte ich gut in der Schule und im Handball werden. Nein, nicht gut, perfekt. Zuhause, in der Schule, mit Freunden, im Sport. Perfektionist. Aber ich war nie gut genug. Ich habe mich nie gut genug gefühlt. Die Magersucht hat mir gesagt, sie könne mir helfen. Die Gedanken fingen früh an. Ich glaub, mit 9-10 Jahren habe ich angefangen zu denken, dass ich dünn werden könnte und damit alles besser werden würde. Der Kopf wäre die Lösung für all die Probleme.

Ich war in einer kranken Welt gefangen. Ich war krank. So viele innere Wunden, die nie ganz heilen werden. Meinen Frieden werde ich nicht finden, bevor ich nicht alle Wunden heile. Ich muss durch die Hölle gehen, um frei zu werden. Das ist ein guter Grund, einfach aufzugeben. Aber ich habe meine Träume, ich habe einen starken Drang, gesund zu sein. Ich will mich finden. Ich will anderen als Ärztin helfen. Ich will meine Geschichte erzählen. Und anderen vielleicht auch damit helfen, wenn ich das kann.

 Ich will einen Tag nach dem anderen nehmen. Ich denke daran, dass ich irgendwann gesund sein werde, auch wenn es jetzt noch dunkel ist. Ein Tag kommt nach dem anderen, aber irgendwann wird es besser. Dennoch habe ich Angst davor, dass ich es nicht schaffe und nicht gewinnen werde. Dass ich nicht gut genug bin.

Ich kämpfe, aber habe Angst, dass ich irgendwann aufgebe. Meine Träume aufgebe. Die Krankheit nimmt Leben, das ist mir bewusst. Wenn destruktive Gedanken kommen, versuche ich zu denken - was machst du da eigentlich? Das sind kranke Gedanken, so wirst du nie Ärztin!
Das Wort "Ärztin" löst in mir unglaubliche Gefühle aus. Sehnsucht nach Dingen, die ich erreichen möchte. Ich habe alles, was ich brauche, ich muss nur daran glauben. Ich habe Ziele und nur die Krankheit hält mich davon ab. Aber warum soll ich meine Ziele nicht erreichen? Ich habe genau so das Recht auf Leben wie alle anderen auch. Ich versuche mir zu sagen, dass ich es verdiene, zu leben und gesund zu sein.

Neun Jahre Leid, wann ist es genug? Das liegt an mir. Es liegt an mir, 100% gegen die Krankheit zu kämpfen. Den Versuchungen widerstehen.

Ich will meine Freiheit. Die Freiheit, das zu tun, was ich machen möchte. Das ist doch etwas völlig normales, dazu sind wir doch bestimmt, oder?

Und vor allem möchte ich, dass meine Familie und Freunde frei sind. Ich möchte nicht, dass sie wegen meiner Krankheit leiden. Meine Mutter, Schwester, mein Freund. Sie haben so viel durchgemacht und das tut mir so leid. Das Leben sollte für sie nicht so hart sein. Sie haben so viel Leid erfahren wegen meiner Krankheit.

Ich muss die richtigen Entscheidungen treffen.
Wenn ich das Leben wähle, wähle ich mich selber. Ärztin werden, Kinder, Sport, Gesundheit, Freunde, Familie, Leben, Freude, Menschen, Motivation, Stärke, Mut, Bücher, Reisen, Hobbys, LARS.

Wenn ich die Krankheit wähle, wähle ich den Tod. Ende des Lebens, ende der Freude. Lügen, krank sein, Krankenhäuser, Schmerz, Essen, Bulimie, Anorexie, Therapien, Behandlungen. Ich verliere mein Leben, ich bin einsam, alleine und schließlich tot.

Für andere ist diese Entscheidung ganz einfach. Für mich hängt sie fest. Ich hänge unten fest und muss mich nach oben kämpfen. Aber der Weg ist stürmisch und schwierig. Die größte Veränderung. Ich stehe dazwischen, mit einem Bein im Grab, wie immer.

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